Das Thema Essen ist in vielen Familien längst ein Anlass für endlose Debatten. Viele Eltern sind inzwischen verunsichert, wie denn eigentlich eine gesunde Ernährung aussehen sollte. Der Kinderarzt Prof. Dr. Alfred Längler erklärt, was das konkret heißt – und räumt mit einigen Mythen auf…

Herr Prof. Längler, gesunde Ernährung für Kinder sollte selbstverständlich sein – aber was ist denn für Kinder nun wirklich gesund?

Prof. Alfred Längler: Ganz einfach: Ausschließliches Stillen ist in den ersten sechs Lebensmonaten die gesündeste, sicherste, kostengünstigste und nachhaltigste Ernährungsform. Zum Beispiel stärkt das Stillen das kindliche Immunsystem und beugt Allergien vor. Gestillt werden kann und darf so lange, wie Mutter und Kind es wollen. Aber spätestens danach fragen sich viele Eltern, was die beste und gesündeste Ernährungsform ist. Dazu eins vorweg: Die Geschmäcker sind nun mal verschieden, so dass es eigentlich nie das ideale Lebensmittel für alle gibt, die sich oder ihre Kinder gesund ernähren wollen.

Aber es gibt doch sicher trotzdem einige Regeln, die für alle gelten, oder?

Prof. Alfred Längler: Ja. Es gibt bestimmte Lebensmittelgruppen, die im gesunden Essen für alle Kinder vorkommen sollten: viele pflanzliche Produkte, viel Vollkorn, wenig tierische Produkte wie Fleisch und Fette. Gerade in den ersten Monaten (und Jahren) sollten Eltern darauf achten, dass die Kinder nicht mit zu vielen Geschmackkomponenten gleichzeitig konfrontiert werden – wie sie zum Beispiel in Fertigprodukten vorkommen. Es ist wichtig, dass Kinder die Einzelgeschmäcker von bestimmten Lebensmitteln kennen lernen. So haben Eltern eher Einfluss darauf, den sich ausbildenden Geschmack positiv zu beeinflussen. Auch die Vielfalt zählt.

Warum ist eine gesunde Ernährung gerade für Kinder so wichtig?

Prof. Alfred Längler: Während die Ernährung des Erwachsenen ja im Wesentlichen dazu dient, Energie zum Erhalt des Organismus zu liefern, baut das Kind seinen Körper ja erst auf. Der Körper wächst noch, auch manche Organe müssen sich nach der Geburt erst noch vollständig ausbilden. Deshalb ist vor allem bei der kindlichen Ernährung die Qualität der Nahrungsbestandteile so wichtig.

Und welche Lebensmittel sind denn nun gesund? 

Prof. Alfred Längler: Gesund ist ein Nahrungsmittel, wenn es nur seine eigenen Inhaltsstoffe aufweist, d.h. keine Zusatzstoffe hat, aber vor allem auch keine Rückstände von Pflanzenschutzmitteln, die in der konventionellen Landwirtschaft eingesetzt werden. Deshalb empfehlen sich Bio-Produkte, die auf eine artgerechte Zucht/Produktion setzen. Gesunde Nahrungsmittel sind außerdem in der Regel saisonal und auch regional hergestellt. Natürlich kann man davon mal abweichen, das sollte dann aber eine bewusste Entscheidung sein. Und das Tolle an gesunder Ernährung: sie ist so vielfältig, dass sie – gut und phantasievoll zubereitet – nahezu allen schmeckt. Ein echtes Vorbild ist die mediterrane Küche mit viel frischem Obst und Gemüse, Olivenöl, Fisch, frischen Kräutern sowie moderatem Verzehr von Brot, Nudeln und Reis. Es darf also ruhig schmecken wie beim Italiener oder Griechen. Nicht zufällig werden die Bewohner Kretas in ganz Europa am ältesten.

Was sagen Sie zu den Diskussionen, dass man Kinder auch vegan oder vegetarisch ernähren kann oder sogar sollte?

Prof. Alfred Längler: Von verbissenen Debatten am heimischen Abendbrottisch halte ich wenig. Essen ist nun mal etwas sehr Individuelles, deshalb plädiere ich für mehr Gelassenheit. Wir wissen inzwischen relativ zuverlässig, dass unsere drei wesentlichen Ernährungsformen omnivor (alle Nahrungsmittel inklusive Fleisch), vegetarisch und auch vegan für Erwachsene und Kinder gleichermaßen als Grundlage einer gesunden Ernährung geeignet sind – sofern bestimmte kritische Nährstoffe, vor allem Vitamin B12 bei veganer Ernährung, zusätzlich ergänzt werden.

Und was ist mit den Nahrungsmittelunverträglichkeiten – haben die wirklich so zugenommen? 

Prof. Alfred Längler: „Echte“ Unverträglichkeiten sind auch heute noch recht selten, am ehesten tritt noch die Gluten-Unverträglichkeit (Zöliakie) auf. Was viele Eltern (und Kinder) aber meinen, wenn sie von Unverträglichkeiten sprechen, sind eher individuelle Schwächen in der Verdauung bestimmter Nahrungsbestandteile. Dann kann man diese Nahrungsmittel meiden. In der Familie ist das sicher akzeptiert, im breiteren sozialen Kontext wird es dann schon schwieriger, weil sich die Kinder entweder ausgegrenzt fühlen oder auf der anderen Seite ein enormer Aufwand betrieben wird, wenn es um das gemeinsame Essen in größeren Gruppen geht. Leicht überspitzt formuliert: Früher gab es bei Kindergeburtstagen eine Geburtstagstorte für alle – heute gibt es wegen diverser Unverträglichkeiten so viele Geburtstagstorten, wie es Gäste gibt… Da gilt es immer abzuwägen: Essen ist Nahrung und Grundlage von gesunder kindlicher körperlicher und seelischer Entwicklung. Essen ist aber auch ein sozialer Akt des Miteinanders – ein gemeinsames Event, an dem alle teilnehmen sollten.

Warum sind heute mehr Kinder übergewichtig? Was sagen Sie als Arzt?Ernaehrung pexels kampus production

Prof. Alfred Längler: Ja, die Zahl der übergewichtigen Kinder steigt, auch schon vor Corona. Während der Pandemie hat dann zusätzlich durchschnittlich jedes sechste Kind zugenommen. Experten sprechen bereits von einer neuen, ganz anderen Pandemie: dem Übergewicht. Die Folgen können dramatisch sein: Schon Schulkinder entwickeln Diabetes und Bluthochdruck oder bekommen Probleme mit dem Bewegungsapparat. Dazu kommen noch die emotionalen Folgen für das Kind: soziale Ausgrenzung, Hänseln, schließlich kompletter Rückzug. All das wollen wir unseren Kindern natürlich ersparen. Das hat viel damit zu tun, was wir Eltern unseren Kindern in Bezug auf Ernährung und Bewegung vorleben.

Was sagen Sie zur Klimadebatte rund um die Ernährung?

Prof. Alfred Längler: Ganz klar: Auch der Planet Erde profitiert extrem davon, wenn weniger Fleisch und mehr pflanzliche Nahrungsmittel auf dem Speiseplan stehen. Klimaforscher und Ernährungswissenschaftler haben zum Beispiel für die Initiative „Planetary Health Diet“ einen Speiseplan erstellt, um Mensch und Umwelt zu schützen: Der Konsum von Obst und Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen müsste ungefähr verdoppelt werden, der Verzehr von Fleisch und Zucker dagegen halbiert. Außerdem müssten auch die Lebensmittelproduktion verbessert und Lebensmittelabfälle reduziert werden. Ja, das sind dicke Bretter. Aber es würde sich extrem lohnen: Eine wissenschaftliche Kommission hat ermittelt, dass es mit dieser „Planetary Health Diet“ möglich ist, bis zum Jahr 2050 etwa 10 Milliarden Menschen auf der Erde gesund zu ernähren, ohne den Planeten zu zerstören. Wir haben es also in der Hand. Auch am Abendbrottisch in der Familie.

über Alfred LaenglerProf. Dr. med. Alfred Längler 

Prof. Dr. med. Alfred Längler ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie Kinderonkologe. Er ist Leitender Arzt der Abteilung Kinder- und Jugendmedizin und Ärztlicher Direktor am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke sowie Professor an der Universität Witten/Herdecke. Alfred Längler ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Kinderheilkunde, Vorsitzender der WHO-Unicef-Initiative „Babyfreundliches Krankenhaus“ in Deutschland und Mitglied der Nationalen Stillkommission in Deutschland.