Herr Dr. Kameda, als Kinderarzt begleiten Sie Familien über viele Jahre hinweg, nicht nur bei Infekten & Co. Welche Rolle spielen pädagogische Themen wie der Umgang mit Freiheit und Grenzen bei Ihnen in der Praxis?

Dr. Genn Kameda: Eine große! In der Kinderarztpraxis haben wir eben nicht nur mit Schnupfen, Husten und den Vorsorgeuntersuchungen zu tun. Auch die Rahmenbedingungen, die ein Kind braucht, um gesund aufwachsen zu können, sind immer wieder Thema. Da spielen viele Facetten rein: Rhythmus, Bewegung, Ernährung. Aber auch die Frage, welche Art der Pädagogik das Kind stärkt, kommt auf den Tisch. Ein Thema, das in meiner Arbeit immer wieder aufkommt, ist der Umgang mit Freiheit und Grenzen in der Erziehung.

Wie meinen Sie das?

Dr. Genn Kameda: Wir Kinderärzte erleben in der Sprechstunde immer mehr verunsicherte und ängstliche Eltern, die voller Sorge alles kontrollieren möchten – die so genannten „Helikopter-Eltern“. In der gut gemeinten Absicht, das Kind bestmöglich zu fördern, kommt es zur Überbehütung. Problematisch dabei ist, dass die originäre Fähigkeit eines Kindes, der Welt mit Offenheit und Vertrauen zu begegnen, in Frage gestellt wird. Erlebt das Kind ständig die Ängste der Eltern und spürt, dass sie ihm nicht vertrauen, kann sich das kindliche Selbstvertrauen nur eingeschränkt entwickeln. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Eltern, die zu viel Freiheit lassen und ihre Kinder damit überfordern. Auch das gefährdet die gesunde Entwicklung eines Kindes. Viele Eltern müssen dieses Ausbalancieren erst wieder lernen.

Das Kind muss die Möglichkeit haben, mit allen seinen Sinnen Erfahrungen zu machen.

Wie kann man das lernen?

Dr. Genn Kameda: Am besten, indem man von Anfang an übt, die Entwicklungsoffenheit des Kindes zu fördern. Schaffen Sie Rahmenbedingungen, dass Ihr Kind zum Beispiel alleine und ungestört spielen kann. Dabei lernt es, eigene Wahrnehmungs- und Wirkungsmöglichkeiten zu entdecken. Das Kind muss die Möglichkeit haben, mit allen seinen Sinnen Erfahrungen zu machen. Sie als Eltern können Ihr Kind anregen, sich selbst Aufgaben zu stellen und eigene Lösungsmöglichkeiten zu finden. Wer das einmal gelernt hat, wird sein ganzes Leben davon profitieren können. Denn es macht Mut, sich an Neues heranzutrauen.

Und was ist, wenn die kostbare Vase von Oma im Weg steht?

Dr. Genn Kameda: Das kommt vielleicht auf den Wert der Vase an! Aber unterbrechen Sie möglichst wenig, auch wenn mal was zu Bruch geht. Wahl- und Irrtumsmöglichkeiten gehören zum Spielen dazu. Wenn Erwachsene zu schnell eingreifen, wird das Kind kaum Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten oder auch Ausdauer entwickeln. Trotzdem ist natürlich klar: echte Gefahrenquellen müssen ausgeschlossen werden.

Sollen Eltern sich beim kindlichen Spiel völlig zurückhalten?

Dr. Genn Kameda: Nein. Es motiviert Kinder, wenn Eltern ihr Spiel mit echtem Interesse begleiten. Darauf aufbauend, entwickelt das ältere Kind später die Fähigkeit, sich auch intellektuelles Wissen anzueignen und verantwortungsvolle Aufgaben zu übernehmen – zum Beispiel auch im Haushalt, wo Kinder (attraktive!) Aufgaben durchaus gerne übernehmen. 

Kann zu viel Freiheit das Kind auch überfordern? 

Dr. Genn Kameda: Ja, es gibt auch Überforderung. Zum Beispiel fehlt dem Kind bei zu früher intellektueller Ansprache die entsprechende sinnliche Erfahrung, um das Erlebte angemessen erfassen zu können. Und noch ein (klassisches) Beispiel für Überforderung – zu viele Möglichkeiten: „Möchtest du lieber Erdbeer-Joghurt? Oder Vanille? Oder Mango? Oder Zitrone? Oder doch ganz was anderes?“ Angesichts dieser Optionen werden ja schon Erwachsene konfus. Wie soll es dann erst Kindern gehen?

Wie kann man solche Klippen umschiffen?

Dr. Genn Kameda: Indem Eltern üben, genau hinzuschauen, was das Kind gerade braucht. Das hat natürlich viel mit seinem Alter bzw. Entwicklungsstand zu tun. Diese Wahrnehmung klingt einfacher als es ist, wo Eltern zwischen Job und Familie oft unter Zeitdruck stehen. Und wenn Feierabend ist, geht für viele der Freizeitstress los. Die Kinder werden zum Ballett, Schwimmen, Karate gefahren. So schön diese Aktivitäten auch einzeln sein können, so reduziert es doch auch die Zeit, die Kinder ganz unbeobachtet Zeit mit anderen Kindern verbringen können, ohne Bildungs- oder sonstigen Auftrag.

Woher kommt der Wunsch, das Kind ständig im Blick haben zu wollen?

Dr. Genn Kameda: Das ist sicher ein Trend unserer Zeit. Wir haben oft den Eindruck, dass unsere Welt gefährlicher geworden sei. Statistiken sprechen allerdings dagegen. Viele Lebensbereiche sind sogar sicherer geworden. Trotzdem werden Ängste auch durch dramatische Berichterstattung in den Medien eher geschürt. Es ist gut, wenn Eltern sich immer wieder fragen: Bestehen reale Gefahren? Oder geht es um subjektive Wahrnehmungen? Es ist ja nicht selten, dass es nämlich eigentlich um eigene Ängste als um eine reale Gefährdung des Kindes geht. Das Vorhaben, das Kind vor jeglicher Gefahr behüten zu wollen (nicht auf den Baum klettern, rennt nicht so schnell etc.) bedeutet für Eltern und Kind enormen Stress.

Wie können Eltern eigene Ängste überlisten?

Dr. Genn Kameda: Freiräume zu schaffen und mehr Gelassenheit zu wagen, wäre schon einmal ein wichtiger Schritt. Eltern sein bedeutet auch, immer wieder Abschied von den eigenen Vorstellungen zu nehmen, um die individuellen Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen. Ein zweiter Schritt könnte sein, Kinder für die Aufgabe zu sensibilisieren, wie man mit Risiken umgehen kann – denn ganz aus der Welt schaffen kann man sie sowieso nicht. Dazu ist es sinnvoll, das Kind erst einmal in seinem Tun zu beobachten (ohne es zu überwachen!), um zu sehen, wie das Kind mit der Situation umgeht. Hat es selbst Lösungsideen? Kommt es überhaupt zu einer Gefährdung? Wurde die Situation erfolgreich von Kind und Eltern gemeistert, haben beide Seiten viel geleistet und gelernt. Wer das schafft, hat den ersten Schritt zum Loslassen gemacht, so dass das Kind seine eigenen Erfahrungen machen kann.

 

Dr. med. Genn Kameda ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin » in eigener Praxis. Zuvor war er als Oberarzt in der Abteilung Kinderheilkunde am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke tätig. Hier war er zuständig für die Impfberatung und Ultraschallsprechstunde sowie für Kinder mit Nieren-, Krebs- und Darmerkrankungen, Rheuma oder psychosomatischen Krankheiten. Er ist Anthroposophischer Arzt (GAÄD).