Porträt Dr. Christoph Meinecke

Interview: "Pillen statt Therapie?"

Gesprächspartner: Dr. med. Christoph Meinecke, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin

Herr Dr. Meinecke, die neue Leitlinie für ADHS sieht vor, künftig auch bei mittelschweren Fällen von ADHS vorrangig Medikamente (Methylphenidat) zu verordnen. Seitdem wird heftig gestritten. Sie haben tagtäglich mit betroffenen Kindern und ihren Familien zu tun. Wie sehen Sie das?

Dr. Christoph Meinecke: Die Tendenz, ADHS vor allem mit Medikamenten zu behandeln, erleben wir ja schon seit einiger Zeit. Insofern ist die neue Leitlinie ein Abbild dieser Entwicklung. Insgesamt gehen auch viele Ärzte dazu über, die Krankheit als Stoffwechselstörung zu bezeichnen, die nun mal medikamentös behandelt werden müsse – vergleichbar zum Beispiel mit Diabetes, wo man klar sehen kann, dass Insulin fehlt, das dann eben künstlich zugefügt wird. Für diesen Vergleich gibt es allerdings keine direkt messbaren Belege. Trotzdem ist das oft die Grundhaltung. Das macht es natürlich leichter, die Grenzen etwas weiter Richtung Methylphenidat – also Ritalin & Co. – zu verschieben.

Segen oder Fluch – wie stehen Sie zur medikamentösen Therapie?

Meinecke: Um es kurz zu machen: Eine optimale pädagogische Begleitung ersetzt (in den allermeisten Fällen) Ritalin & Co. Es gibt nur wenige Kinder, deren Problematik so stark ist, dass man ihnen Psychopharmaka geben muss. In der Realität müssen wir uns aber auch eingestehen, dass das Umfeld eben oft nicht optimal pädagogisch funktioniert. Deshalb können einige Kinder von den Medikamenten profitieren, wenn wirklich Schaden droht und wenn die anderen Therapiemaßnahmen in dem Maße, wie sie benötigt werden, nicht zur Verfügung stehen.

Was braucht es stattdessen?

Meinecke: Therapien, Elterntrainings, Zusammenarbeit mit Lehrern und Erziehern – all das bräuchte es, ADHS ohne Medikamente gut zu behandeln. Dafür ist in unserem System aber nie Geld da. Es fehlt auch an Strukturen, damit die Familien das überhaupt koordiniert kriegen. Und vielleicht noch wichtiger: In unserer Gesellschaft ist die Bereitschaft, den Kindern Entwicklungsräume zu geben, oft nicht vorhanden. Dabei wünschen wir uns ja alle, dass Kinder eine gesunde Selbstwirksamkeit ausbilden und lernen, sich selbst zu regulieren.

Was wird sich jetzt für die betroffenen Kinder und Eltern ändern?

Meinecke: Wahrscheinlich gar nicht mal so viel. Es ist schon heute so, dass viele Ärzte bei ADHS Medikamente verschreiben, auch wenn die Krankheit nicht so stark ausgeprägt ist. Diese Praxis wird durch die neue Leitlinie nun quasi „offiziell“ gemacht. Banal ist das natürlich trotzdem nicht. Denn die neue Leitlinie ist eine Kapitulation davor, dass wir den betroffenen Kindern ohne Medikamente nicht mehr gerecht werden können. Wir lassen diese Familien und ihre Kinder viel zu oft allein!

Was meinen Sie damit?

Meinecke: Die Rahmenbedingungen in Medizin und Pädagogik reichen einfach nicht aus. Das fängt ja ganz früh an: die Betreuungsschlüssel in der Kita sind nicht gut, die Bezahlung von qualifizierten Erziehern ist mies, für Hebammen ist kein Geld da, für Sozialarbeiter in der Schule ebenso wenig – und so weiter. Das ist ein Armutszeugnis für ein so reiches Land wie Deutschland. Kinder, die in Problemkiezen aufwachsen, haben in der Regel keine Chance, rauszukommen, ihre Sinne zu schulen oder sich in der Natur frei bewegen zu können. Von einer sinnvollen Begleitung der Familien, um Erziehungskompetenz auszubilden, mal ganz abgesehen. Was früher von Dorf und Familie übernommen wurde, wird heute alleine von – oft überforderten – Eltern gestemmt. Viele Kinder sind sich selbst überlassen, weil die Eltern eigene Probleme haben. Gerade diese Kinder sind am gefährdetsten.

Sind Kinder heute stärker gefährdet?

Meinecke: Ja, das kann man klar sagen. Denn Kinder sind heute ja viel mehr Reizen ausgesetzt, vor allem über alle möglichen Medien. Aufmerksamkeitsstörungen bedeuten ja, dass Kinder sich nicht konzentrieren und bei sich bleiben können – was natürlich durch die ständige mediale Stimulation noch verstärkt wird.

Wie setzt die Anthroposophische Medizin an?

Meinecke: In der Anthroposophischen Kinderheilkunde liegt ein sehr wichtiger Schwerpunkt darauf, dass Kinder eine gesunde Ich-Entwicklung erleben können. Daher ist es uns sehr wichtig, dass wir den Kindern Entwicklungsräume zugestehen. In der Prävention heißt das: Das Kind dabei zu unterstützen, erst einmal bei sich anzukommen und die eigenen Sinne auszubilden – tasten, sich bewegen, sehen, hören etc.

Wie behandeln Sie betroffene Kinder?

Meinecke: Unser Ansatz ist und bleibt, möglichst auf Medikamente zu verzichten. Wir versuchen es zunächst mit Familienhilfe, auch über das Familienforum Havelhöhe. Die Familien werden im Alltag unterstützt, so dass man den Kindern wieder Vertrauen zurückgeben kann: Auch für dich ist gesorgt. Und man kann diese Kinder sehr gut pädagogisch begleiten. Daher wird zu Elternkursen geraten. Manchmal ist auch eine Therapie der ganzen Familie nötig. Immer werden für das Kind Therapien zur Stärkung der Selbstwahrnehmung angesetzt. Außerdem arbeiten wir mit ganzheitlich regulativen Medikamenten.

Was haben Aufmerksamkeitsstörungen mit der Schule zu tun?

Meinecke: Sehr viel. ADHS spielt vor allem im Schulalter eine Rolle. Die Klassen sind groß, Kinder müssen sich stark – auch sozial – anpassen. Gleichzeitig haben viele Eltern das Gefühl, dass ein guter Schulabschluss existenziell wichtig dafür ist, ein erfülltes Leben zu führen. Diesem Ziel wird vieles untergeordnet. Das kann dann auch bedeuten, dass Ritalin oder anderes verschrieben wird, weil das Kind im normalen System Schule sonst gar nicht mehr „funktioniert“.

Auch die neue Leitlinie empfiehlt bei ADHS Psychotherapie und Psychoedukation. Wo sind die Grenzen?

Meinecke: Ganz einfach: Die Kapazitäten dafür sind nicht da! Wenn ich versuche, für einen schweren Fall einen Platz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu bekommen oder überhaupt nur einen Therapieplatz, finde ich kaum einen. Wir müssen die Kinder dann wieder nach Hause schicken, weil nichts frei ist. Und das bei Kindern, die nichts dringender brauchen, als dass liebevoll jemand auf sie eingeht, sie stärkt und stützt. Es fehlt vor allem an Strukturen, die sicherstellen, dass diejenigen Hilfe bekommen, die sie am dringendsten brauchen.

Was brauchen die Kinder am dringendsten?

Meinecke: Die Kinder mit ADHS brauchen das Gefühl, in ihren Grundbedürfnissen (wieder) versorgt und beschützt zu werden. Dazu braucht es Menschen, die sie begleiten, die zu ihnen stehen, die sich ehrlich für sie interessieren und sie nicht hängenlassen. Vor allem in der Schulzeit mit ihren ganz eigenen Herausforderungen müssen wir die Kinder so stärken, dass sie ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln und behalten dürfen. Das ist unser wichtigstes Ziel.

Eine abschließende Frage: Sie haben viel mit ADHS-Kindern zu tun. Wie empfinden Sie diese Arbeit?

Meinecke: Kinder mit ADHS haben ihre ganz besonderen Qualitäten: Auch wenn man es natürlich nicht verallgemeinern kann, sind sie oft sehr spontan, sie sind kreativ, sie können schnell verzeihen und sind sehr an ihren Mitmenschen interessiert. Aber sie haben natürlich oft Probleme, ihre Kraft und ihr Temperament zu zügeln, so dass sie dann als distanzlos, hektisch, sozial übergriffig wahrgenommen werden. Gleichzeitig sind sie Sensoren für die Atmosphäre in der Umgebung. Und reagieren sehr schnell auf Unstimmigkeiten in der Erwachsenenwelt. Wenn ihnen aber jemand gegenübersteht, der authentisch ist, der sich ehrlich interessiert und auch dran bleibt – das merken diese Kinder sehr schnell und sind dann auch bereit, sich zu öffnen. Das zu erleben, macht mir große Freude.

Herr Dr. Meinecke, vielen Dank für dieses Gespräch!

Juli 2018