Portrait von Dr. Hauke Schütt im weißen Anzug

Interview: "Zurück zur natürlichen Geburt"

Gesprächspartner ist Dr. Hauke Schütt, Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe

 

Kürzlich wurde erneut eine Studie veröffentlicht, die sich mit den langfristigen Folgen eines Kaiserschnittes befasst. Wieder wurde kritisiert, dass die Kaiserschnitt-Rate in Deutschland zu hoch sei. Was ist da dran?

Dr. Hauke Schütt: Keine Frage, in Deutschland haben wir mehr Kaiserschnitte, als wir bräuchten – momentan liegt die Rate deutschlandweit bei etwas über 30 Prozent. Das hat viele Gründe, auch ökonomische. Nach wie vor wird ein Kaiserschnitt von den Krankenkassen deutlich besser vergütet als eine natürliche Geburt, die Stunden oder Tage dauern kann. Da könnte man einiges machen, um diese Schieflage zu korrigieren. Zumindest könnten die Krankenkassen Projekte, die die natürliche Geburt fördern, stärker unterstützen. Ein erster Schritt könnte auch sein, die Geburtskliniken endlich zu verpflichten, ihre jeweilige Kaiserschnitt-Rate anzugeben. Das wäre wirklich wichtig für eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema. In der Schweiz geht das ja auch.

Warum ist eine hohe Kaiserschnitt-Rate problematisch?

Schütt: Ein Kaiserschnitt (medizinisch „Sectio“) ist ein massiver Eingriff in den natürlichen Geburts- und Schwangerschaftsverlauf. Lange galt er trotzdem als besonders sichere Form der Geburt. Und heute wird eine Sectio manchmal fast standardmäßig gemacht. Die Folgen dieser Entwicklung können wir noch kaum absehen. Immerhin wird in diesem Bereich nun endlich mehr geforscht:  Zum Beispiel zeigen große Studien heute ganz klar, dass das Risiko für allergische Erkrankungen, entzündliche Darmerkrankungen, Infektanfälligkeit oder plötzlicher Kindstod bei Kaiserschnitt-Kindern noch Jahre später erhöht ist. Es ist mir unverständlich, dass diese Risiken immer noch nicht auf den Aufklärungsbögen, die man vor einem chirurgischen Eingriff unterschreiben muss, genannt werden.

Die neuen Studien haben endlich eine Diskussion angestoßen. Auch die WHO hat sich positioniert. Warum hat es so lange gedauert?

Schütt: Die Fokussierung auf die Geburtshilfe, so wie ich sie verstehe, liegt nicht unbedingt im Trend. Die anderen Standbeine der Gynäkologie stehen viel mehr im Fokus. Meines Wissens haben wir 51 Universitätskliniken in Deutschland, von denen keine (!) von einem Geburtshelfer geleitet wird. Mit Geburtshilfe ist wenig Reputation verbunden. Und gleichzeitig denken alle, dass Geburtshilfe mal eben schnell gelernt wird. Das ist ein Irrtum.

In der anthroposophisch orientierten Filderklinik lag die Kaiserschnitt-Rate im vergangenen Jahr bei 14,2 Prozent – bundesweit wohl der niedrigste Wert. Wie schaffen Sie das?

Schütt: Wir machen einfach saubere Geburtshilfe! Darauf sind wir als Team spezialisiert. Und es liegt sicher nicht daran, dass wir nur „einfache“ Geburten haben. Ganz im Gegenteil: Wir haben eine sehr anspruchsvolle Kundschaft und viele Familien kommen extra zu uns, weil man bei uns auch Zwillinge oder Mehrlinge natürlich zur Welt bringen kann. Denn es ist einfach so: Die allermeisten Geburten lassen sich natürlich begleiten. Daran orientieren wir uns. Für mich ist eine niedrige Sectio-Rate ein Qualitätsindikator. Als ich Geburtshilfe vor zwanzig Jahren gelernt habe, war das noch selbstverständlich – heute ist es das nicht mehr. Übrigens empfiehlt die WHO eine Kaiserschnitt-Rate von 10 bis 15 Prozent. Da liegen also sogar wir noch im oberen Bereich.

Viele Frauen, die einen Kaiserschnitt hatten, bekommen bei der nächsten Schwangerschaft automatisch wieder einen. Wie stehen Sie dazu?

Schütt: Fast ein Viertel unserer Patientinnen, die vorher einen Kaiserschnitt (oft nicht bei uns!) hatten, kommen zu uns, weil wir ihnen überhaupt erst die Möglichkeit eröffnen, natürlich zu gebären. 70 Prozent dieser Frauen bringen ihr Kind bei uns ohne Sectio zur Welt. Es geht also. Aber natürlich muss man gut aufpassen, eine solche Geburt ist sehr betreuungsintensiv. Denn ein vorheriger Kaiserschnitt birgt immer Risiken.

Sie sind seit vielen Jahren Leitender Arzt: Was vermitteln Sie Ihrem Team in der Geburtshilfe?

Schütt: Unser klares Ziel ist es, die natürliche Geburt zu fördern. Dazu braucht es ein erfahrenes Team von Hebammen und Geburtshelfern, die wir sehr sorgfältig ausbilden und anleiten. Was mir besonders wichtig ist: meinen Mitarbeitern Sicherheit und Selbstvertrauen zu geben. Man muss schon zu seinen Leuten stehen – und auch hinter ihnen.

Sie arbeiten unter den normalen Rahmenbedingungen eines Akutkrankenhauses mit knappen Ressourcen. Wie gelingt es Ihnen, Stress und Druck trotzdem zu vermeiden?

Schütt: Angst und Stress sind die größten Feinde einer natürlichen Geburt. Wir schauen einfach, was in der Situation für die Frauen wirklich wichtig ist, alles andere kann warten – zum Beispiel Patienten, die mit Bagatell-Geschichten in die Notaufnahme kommen. Unser Job ist es in erster Linie, die Frauen unter der Geburt so gut zu unterstützen, dass sie wieder Vertrauen in die eigene Kraft entwickeln.

Heute ist viel von Risiko-Schwangerschaften die Rede. Was halten Sie davon?

Schütt: Nichts. Ich mag auch das Wort nicht, weil Schwangerschaft und Geburt fast nur noch als Risiko wahrgenommen werden. Wir setzen anders an: Wir vermitteln den Frauen, dass eine Geburt etwas ganz Normales ist – und kein hochgradiges Risiko für Leib und Leben. Bildlich gesprochen: Geburtshilfe ist ja manchmal so, wie Eskimos einen Kühlschrank zu verkaufen! Diese Selbstverständlichkeit ist selten geworden. Zum Beispiel bei den Spät-Gebärenden: Heute ist es völlig normal, dass viele Frauen erst über 40 Mutter werden. Daraus grundsätzlich ein Risiko oder automatisch eine Indikation für einen Kaiserschnitt abzuleiten, ist völliger Quatsch. Oder ein anderes Beispiel: Wie oft wird heute eine Geburt wegen nichts und wieder nichts eingeleitet. Da werden normale Vorgänge in der Schwangerschaft zu Risiken erklärt, die keine sind. Das zu frühe Holen von Kindern führt später zu jeder Menge gesundheitlicher Probleme, die dann mühsam wieder aufgefangen werden müssen.

Wie erklären Sie sich diese Angst vor dem Risiko?

Schütt: Die Geburtshilfe ist immer ein Spiegel ihrer Zeit. Und da wir in einer ziemlich angstbesetzten Gesellschaft leben, entwickelt sich auch die Geburtshilfe in diese Richtung. In der Pädagogik sieht es ja nicht anders aus. Da mache ich aber nicht mit. Wir versuchen, diesen Ängsten in der Geburtshilfe etwas entgegenzusetzen – und die Frauen in ihren Sorgen trotzdem ernst zu nehmen. Da braucht man viel Erfahrung und auch Fingerspitzengefühl.

Musiktherapie & Co. – welche besonderen Therapien aus der Anthroposophischen Medizin nutzen Sie in der Geburtshilfe?

Schütt: Wir Geburtshelfer brauchen ja eigentlich vor allem Gelassenheit und Selbstvertrauen. Das gehört ja grundlegend zur Anthroposophischen Medizin: Vertrauen in die eigenen Kräfte und Ressourcen zu entwickeln. Und natürlich nutzen wir Ansätze wie das Bonding, bei dem Mutter und Kind gerade in den ersten Stunden nicht voneinander getrennt werden. Therapien oder spezifische Arzneimittel im klassischen Sinne brauchen wir erst mal nicht. Wir haben ja nicht mit Krankheit zu tun, sondern mit völlig normalen und gesunden Abläufen. Das zu erkennen – das versuche ich meinen Mitarbeitern mitzugeben.

Was ist das Schönste an Ihrem Beruf?

Schütt: Na, die Geburt eines Kindes natürlich, ich bitte Sie! Da dabei sein zu dürfen, ist und bleibt ein Privileg. Dabei sollte sich die Medizin ganz gepflegt zurücknehmen. Kennen Sie diese Geschichte, dass chinesische Ärzte nur dann bezahlt werden, wenn ihre Patienten gesund sind? Und nicht, wenn sie krank sind!

Herr Dr. Schütt, vielen Dank für dieses Gespräch!


Juli 2017