Interview: "Eine neue Pflege"
Gesprächspartner: Rolf Heine, Experte für Anthroposophische Pflege
Herr Heine, Sie sind seit Jahren auch gesundheitspolitisch in der Pflege aktiv. Wie erleben Sie die jetzige Situation? Was hat sich geändert?
Rolf Heine: Die Pflege wurde über Jahre und Jahrzehnte kaputtgespart, während die zu erbringenden Leistungen im selben Zeitraum gestiegen sind. Dass das nicht so weitergehen kann, ist allen längst klar. Und obwohl flächendeckend so viele Menschen betroffen sind – entweder als Pflegende oder als Gepflegte – hat das Thema in der öffentlichen Debatte niemanden interessiert. Das ändert sich gerade. Die Gesundheitspolitik nimmt das Thema endlich ernst, es werden Vorschläge gemacht, die Medien springen auf den Zug auf, nicht zuletzt wird ein junger Pflegender im vergangenen Wahlkampf zum Social-Media-Phänomen, weil er Angela Merkel mit ganz schlichten Fragen zu den unmenschlichen Zuständen in der Pflege in Bedrängnis bringt. Das alles reicht natürlich noch nicht aus, aber wir spüren, dass sich die Wahrnehmung der Pflege ändert.
Welche konkreten Vorschläge gibt es?
Heine: Einige – wenn auch noch nicht genug. Im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD wurde die Pflege deutlich hervorgehoben: Mit einem Sofortprogramm sollen 8.000 Fachkraftstellen in stationären Einrichtungen der Altenhilfe geschaffen werden. Das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Trotzdem ein Anfang. Zudem soll es in Krankenhäusern für die bettenführenden Abteilungen Personaluntergrenzen geben – auch wenn jetzt schon wieder diskutiert wird, dass diese Untergrenzen nur für bestimmte, zum Beispiel intensivmedizinische Stationen gelten sollen. Außerdem sollen die Pflegepersonalkosten zukünftig unabhängig vom DRG-System vergütet werden. Auch dazu gibt es noch jede Menge Fragen, wir wissen noch nicht, welche Berechnungsgrundlage stattdessen kommen soll. Wird Pflege endlich besser vergütet? Alles andere wäre natürlich sinnlos.
Und sonst noch?
Heine: Interessant ist, dass das gesundheitspolitische Spitzenpersonal inzwischen ebenfalls – zumindest nach außen – anders mit der Pflege umgeht: Kaum im Amt, setzte der frisch vereidigte Bundesgesundheitsminister, Jens Spahn (CDU), die Pflege auf seine mediale Agenda und machte dem Deutschen Pflegetag im März 2018 auch persönlich seine Aufwartung. Auch Angela Merkel hob die Pflege in ihrer Regierungserklärung ausdrücklich hervor.
Und wie reagiert die organisierte Pflege?
Heine: Passend zu dieser Entwicklung fand im März 2018 der Deutsche Pflegetag statt – das Timing stimmte also! Rund 8.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Pflegebranche, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft waren nach Berlin gekommen, um sich zu vernetzen, zu informieren und auszutauschen.
Beteiligt sich die Anthroposophische Pflege an diesem fachlichen Dialog?
Heine: Veranstaltet wird der dieser Fachkongress vom Deutschen Pflegerat (DPR), dem auch der Verband für Anthroposophische Pflege (VfAP) angehört. Dementsprechend war die Anthroposophische Pflege auch im Programm des Pflegetags vertreten – zum Beispiel mit einem Vortrag zur Spiritualität in der Pflege.
Wie haben Sie den Pflegetag empfunden?
Heine: Der Pflegetag ist DAS zentrale Ereignis für die Pflege in Deutschland! Die Stimmung ist sehr gut. Und man merkt deutlich: Wir werden kämpferischer. Das müssen wir auch, denn an großen Herausforderungen für die Pflege mangelt es nicht. Deshalb braucht es für die Pflege einen Masterplan. Das wurde auch beim Deutschen Pflegetrag diskutiert. Denn es fehlen schon heute, je nach Erhebung, zwischen 50.000 und 100.000 Stellen in der Pflege. Da reicht es nicht, nur punktuelle Änderungen anzustoßen.
Wurden Lösungen diskutiert?
Heine: Auf dem Kongress wurden auch mögliche Lösungen besprochen: Die Teilzeitquote in der Pflege liegt bei über 50 Prozent. Viele Teilzeit-Pflegende könnten durchaus mehr arbeiten. Diese Menschen können also kurzfristig offene Stellen besetzen. Sie sind ja schon da und fertig ausgebildet. Voraussetzung ist allerdings, dass die Gründe, warum so viele Pflegende Teilzeit arbeiten – unflexibler Schichtdienst, extreme Überlastung durch Personalabbau, dürftige Bezahlung bei einer hochqualifizierten Tätigkeit – endlich angegangen werden. Die Verbesserung dieser Bedingungen könnte viele Pflegende motivieren, wieder in den Beruf einzusteigen und Teilzeitanteile aufzustocken. Auf der anderen Seite würde es Jahrzehnte dauern, bis junge Leute neu für die Pflege begeistert und ausgebildet werden können. Nur mit einer sofortigen Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Alten- und Krankenpflege – stationär und ambulant – haben wir eine Chance. Das war Diskussionsgrundlage auf dem Kongress. Auch das Thema Personaluntergrenzen wurde diskutiert. In Deutschland liegt das Verhältnis Pflegekraft zu Patient bei 1 zu 13. Schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass das nicht genug ist. Damit ist das reiche Deutschland Schlusslicht im europäischen Vergleich! In Norwegen ist der Schlüssel 1 zu 6.
Und die Finanzierung?
Heine: Die Pläne, die Pflegepersonalkosten zukünftig aus dem DRG-System herauszulösen, wurden positiv aufgefasst – auch wenn es noch keine konkreten Angaben für eine künftige Berechnungsgrundlage gibt. Zu den Personaluntergrenzen hat der Deutsche Pflegerat eine klare Position: Es gibt in Deutschland an sich nicht zu wenig Pflegekräfte im Krankenhaus, es gibt aber zu viele Kliniken. Solange die Politik keine unpopulären Schließungen vornehmen will und weiter in Kauf nimmt, dass Kliniken einfach ausbluten, wird dieses Dilemma auf dem Rücken der Patienten und der Pflegenden ausgetragen.
Lieber Herr Heine, vielen Dank für dieses Gespräch!
März 2018