Experteninterview zur Anthroposophie-basierten Psychotherapie
Dr. med. Johannes Reiner und Markus Treichler sind beide Psychiater und Psychotherapeuten. Gemeinsam gründeten sie 2017 das Institut Anthroposophie-basierte Psychotherapie (IAbP) in Stuttgart und bilden hier Therapeutinnen und Therapeuten in Anthroposophie-basierter Psychotherapie aus. Im Interview erklären sie was hinter dem Ansatz steckt und zeigen auf, wie sie (jungen) Menschen bei der Bewältigung psychischer Herausforderungen helfen können.
Lieber Herr Treichler und lieber Herr Reiner, bevor wir in Detail gehen erst einmal eine Begriffsklärung: Was ist der Unterschied zwischen einem Psychologen und einem Psychiater?
Johannes Reiner (rechts im Bild): Der Unterschied besteht in den verschiedenen Studien- bzw. Ausbildungswegen: ein Psychologe oder eine Psychologin hat Psychologie studiert und kann anschließend eine zusätzliche Weiterbildung in Psychotherapie machen oder ein Masterstudium Psychotherapie. Eine Psychiaterin oder ein Psychiater hat Medizin studiert und macht nach dem Studium eine Facharztweiterbildung für Psychiatrie und Psychotherapie. Der Unterschied in der Praxis ist, dass die psychologischen Psychotherapeut:innen ausschließlich Psychotherapie machen dürfen, während ärztliche Psychotherapeut:innen, also Psychiater und Ärzte für Psychosomatische Medizin, auch Medikamente verordnen dürfen.
Immer häufiger begegnen uns Menschen, die öffentlich über ihre Erfahrungen und die Tipps von ihren Therapeutinnen und Therapeuten sprechen. Kommen wir langsam weg von den Vorurteilen und dem „Stigma“ von psychischen Erkrankungen?
Johannes Reiner: Ja, aber langsam! Die öffentlichen Äußerungen von Prominenten zu psychischen Erkrankungen und deren Therapie sind wichtige Schritte auf dem Weg zu einer vorurteilsfreieren Beurteilung von psychischen Erkrankungen. Aber es ist noch ein Weg, bis das allgemeine Wissen über psychische Gleichgewichtsstörungen weiter verbreitet ist und nicht nur das Wissen, sondern auch der Umgang mit Menschen, die in Schwierigkeiten sind. Da gibt es erfreuliche neue Ansätze für Aufklärung und Schulung.
Nun haben Sie in den letzten sieben Jahren, seit 2017, die Anthroposophie-basierte Psychotherapie AbP© entwickelt. Was genau macht sie aus? Gibt es Unterschiede zu anderen psychotherapeutischen Ansätzen?
Markus Treichler (links im Bild): Unser psychotherapeutisches Konzept basiert auf der Anthroposophie. Damit ist der entscheidende Unterschied zu anderen psychotherapeutischen Richtungen gegeben. Dieser liegt im anthroposophischen Menschenbild und dabei insbesondere im Verständnis der Seele. In Psychologie und Medizin spricht man heute nicht von der Seele, sondern nur von „dem Psychischen“, das ausschließlich als eine Funktion des Gehirns gedeutet wird. Das sehen wir anders: Die Seele existiert, auch wenn sie unsichtbar ist. Und sie hat Kräfte und Energien, die in die Welt nach außen oder in den Leib nach innen wirken. Oder aber in der Seele selbst zu Spannungen und Störungen führen können. Und: die Seele wird vom Ich geführt, das Ich bestimmt die Haltung der Seele zu dem, was äußerlich oder innerlich passiert. Daraus ergeben sich in unserem Ansatz konkrete psychotherapeutische Interventionsmöglichkeiten, die wir in unseren Kursen vermitteln. Die Anthroposophie-basierte Psychotherapie ist eine ganzheitliche und spirituelle psychotherapeutische Methode, und sie ist erlernbar. Psychotherapeutisch tätige Ärzt:innen und Psycholog:innen können sich darin schulen und sie zusätzlich zu anderen psychotherapeutischen Verfahren anwenden. Wir bieten eine eigenständige psychotherapeutische Richtung an, die kompatibel ist zu den anerkannten Richtungen der Psychotherapie und das therapeutische Spektrum für diejenigen, die unsere Methode erlernt haben, um einen ganzheitlich-spirituellen Ansatz erweitert.
Werfen wir einen Blick in die Praxis: Statistiken zeigen einen besorgniserregenden Anstieg psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür?
Johannes Reiner: Da kommt Verschiedenes zusammen. Psychische Störungen nehmen allgemein zu, nicht nur bei jungen Erwachsenen. Unsere Gegenwart, unsere Gesellschaft und unsere Kultur sind durch allgegenwärtigen Stress geprägt aus Leistung, Performance und Perfektionierung – und durch einen Mangel an Mitmenschlichkeit und gegenseitiger Unterstützung statt Konkurrenz. Junge Menschen sind besonders gefährdet, da sie seelisch besonders vulnerabel sind. Gerade volljährig geworden und aus den festen Strukturen von Familie und Schule erwachsen, haben Viele in dieser seelischen Entwicklungsphase zu wenig inneren Schutz zur Verfügung in unserer unsicheren Zeit, um mit dem Schritt ins Erwachsenwerden und seinen Anforderungen in Ausbildung, Studium oder Berufsleben klarzukommen. Die Tatsache der Vereinsamung während der Pandemie ist ein weiterer Faktor.
Wie kann die AbP (jungen) Menschen bei der Bewältigung von psychischen Herausforderungen helfen?
Markus Treichler: Wir sehen die Situation von Menschen, auch jungen Menschen, im Zusammenhang mit ihrer seelischen Entwicklung und können je nach Lebensalter und Lebenssituation spezifisch darauf eingehen und seelische Entwicklungsschritte fördern, eben weil wir ein klares Bild von der sich entwickelnden Seele haben.
Die Anthroposophische Medizin möchte immer auch die Selbstheilungskräfte der Menschen stärken. Geht das auch in der seelischen Gesundheit? Was raten Sie jungen Menschen?
Markus Treichler: Auch die Seele hat Selbstheilungskräfte in sich und ihre Anregung ist natürlich auch bei seelischen Problemen und Erkrankungen geboten. In unserem Konzept Anthroposophie-basierte Psychotherapie nennen wir diese Selbstheilungskräfte Seeleneigenschaften, weil sie in der Seele selbst sind und aktiviert werden können, um die seelische Gesundheit zu unterstützen. Wichtig ist, sich Zeit und Ruhe zu nehmen und die Bereitschaft zur Besinnung und Reflexion über die Lebenssituation und die Werte und Ziele fürs Leben. Schwierigkeiten oder Erkrankung erfordern immer eine Überprüfung und Neubesinnung. Junge Menschen sind einerseits vulnerabel in ihrer Entwicklung, aber eben auch sensibel, wachsam und in der Lage, sich ihrer Lebensziele bewusst zu werden, bevor es spät oder zu spät ist. Ganz allgemein formuliert ist der Rat: sich Zeit nehmen zur Besinnung auf sich selbst, die eigenen Werte und Ziele im Leben und sich nicht treiben und stressen lassen.
Wenn ich mich als Therapeut:in für die Aus-/Weiterbildung in AbP interessiere, was muss ich da tun? Wie und unter welchen Voraussetzungen kann ich mich qualifizieren?
Johannes Reiner: Als Therapeut oder Therapeutin, ob ärztlich, psychologisch oder mit einer anderen Berufsqualifikation im therapeutischen Bereich, können Sie sich über unsere Kursangebote auf unserer » Homepage informieren. Auch wenn Sie noch in einer entsprechenden Ausbildung sind oder im Studium, können Sie unsere Kurse besuchen. Damit haben wir gute Erfahrungen. Bei Fragen rufen Sie uns einfach an, wir beraten Sie individuell in Ihrer spezifischen Situation. Wir freuen uns, wenn Sie uns kontaktieren!
Vielen Dank für das Gespräch!
28. August 2024