Was heißt „Verantwortung für Deutschland“ im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung für das Gesundheitssystem? Was können und dürfen wir erwarten? Eine Analyse.
Schon die Einleitung des Koalitionsvertrages (KV) der neuen Regierung umreißt die Problemlage im Gesundheitssystem aus derzeit hohen Defiziten und notwendigen grundlegenden Strukturreformen. Ein wichtiger Punkt ist hier die sektorenübergreifende Versorgung.
Der Koalitionsvertrag sieht erneut die Stärkung derselben vor, ebenso wie auch die vorherigen Regierungen, ohne dass bislang wesentliche Reformen erreicht wurden. Neu soll jetzt jedoch noch eine Lotsenfunktion durch sog. Primärärzte (Hausärzte, Kinderärzte, Gynäkologen und Psychiatern) eingeführt werden.
Ferner soll das Honorarsystem im Gesundheitssystem so ausgerichtet werden, dass die Zahl der Patientenkontakte reduziert wird. Ob damit nur die Lotsenfunktion gemeint ist oder aber auch Leistungsbeschränkungen gemeint sind, bleibt im KV offen.
Positiv ist zu bewerten, dass Investorenbetriebene MVZ’s, also profitorientierte Träger von MVZ’s, beschränkt werden sollen. Ferner werden die Facharztbudgetierungen in unterversorgten Regionen aufgehoben, was aber nur bedeutet, dass die verbliebenen Fachärzte in diesen Regionen unbegrenzt Patienten versorgen können oder sollen.
Für den stationären Sektor gilt die Fortsetzung der Gesundheitsreform der letzten Bundesregierung mit der Einführung der sog. Leistungsgruppen. Dies meint, dass nur noch Krankenhäuser bestimmte Leistungen erbringen dürfen, die eine entsprechende Menge davon bisher erbracht haben. Dies bevorzugt natürlich die Krankenhäuser der Maximalversorgung und die Universitäten, die aber häufig in den Patientenbeurteilungen weniger gut abschneiden.
Ein viel größeres Problem stellt aber die Wettbewerbsverzerrung unter den kommunalen und städtischen Krankenhausträgern und den frei-gemeinnützigen und konfessionellen Trägern und damit auch den Anthroposophischen Krankenhäusern dar. Einerseits soll mit dem Fokus auf die wirtschaftliche Effizienz eine Flurbereinigung (Krankenhaussterben aufgrund wirtschaftlicher Probleme und Insolvenzen) erreicht werden, andererseits sind es jedoch gerade die Krankenhäuser der Maximalversorgung und Universitäten, Kommunale-, Städtische- oder Bundeseinrichtungen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen teilweise großen Defizite durch Steuergelder subventioniert werden. Vergrößert wird diese Wettbewerbsverzerrung dadurch, dass zukünftig die Leistungsgruppen Großteils nicht mehr nach Anzahl der Leistung vergütet, sondern stattdessen mit der sog. Vorhaltepauschale (bis zu 40 %) bezahlt werden. Diese Wettbewerbsverzerrung ist aus Sicht der Patienten natürlich bedauerlich, die sich ein leistungsgerechtes und patientenzentriertes Gesundheitssystem wünschen.
Darüber hinaus soll ein Krankenhausbettenabbau durch Vorgaben von Leistungserbringungen durch die sog. Hybrid-DRG’s erfolgen. Dies meint, dass bisher viele stationäre Krankenhausleistungen zukünftig ambulant, d.h. als Tagesaufnahme im Krankenhaus erbracht werden müssen. Damit kommt es natürlich im stationären Sektor zu einem deutlichen Bettenabbau, so wie er gewünscht ist.
Ein sehr wichtiges und überfälliges Thema, eine Pflegereform im Gesundheitssystem, wird im KV als eine Generationenaufgabe bezeichnet sowie eine langfristig geplante Pflegereform angekündigt, die aber eine sog. Bund-Länder-Arbeitsgruppe erst noch erarbeiten soll. Als einzig konkrete Maßnahmen werden ein Gesetz zur Pflegekompetenz, der Pflegeassistenz und die Einführung der ‚Advanced Practice Nurse‘ sowie die rechtliche Absicherung der ‚kleinen Versorgungsverträge‘ zugesichert. Die weiteren wichtigen Aufgaben, wie den Leistungsumfang, die Bündelung von Leistung, die Stärkung der Angehörigenflege, die Schaffung von Angeboten für Akutsituationen, die eigenverantwortliche Vorsorge, die Einführung von Karenzzeiten und die Begrenzung der finanziellen Eigenbeteiligung an der Pflege, bleiben als Absichtserklärungen formuliert. Die Aufwertung der Wertschätzung aller Gesundheitsberufe und Stärkung der Eigenverantwortung werden ebenso erwähnt, wie die Absicht der pflegerischen Selbstverwaltung mit eigenem Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA).
Weniger wertschätzend ist die Aussage im KV, dass eine Änderung der Ausbildungen zu Physio-, Ergo- und Logotherapeuten zu einer vollen akademischen Ausbildung abgelehnt wird. Dies ist eine langjährige Forderung und hätte zur Folge, dass diese Therapeuten unabhängiger von Ärzten arbeiten könnten sowie ihre Arbeit auf einem akademischen Niveau wissenschaftlich basiert positionieren könnten. Aus Patientensicht wäre eine Akademisierung wünschenswert gewesen, auch zum Nutzen der Qualität. Für Osteopathen soll ein eignes Berufsrecht geschaffen werden. Hier kann man sagen: endlich. Denn bisher mussten sie sich als Physiotherapeuten oder als Heilpraktiker qualifizieren, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, die Heilkunde auszuüben.
Interessant ist die Positionierung im KV zu den Apothekern/Pharmazeuten: Hier soll das Fremdbesitzverbot für Apotheken erhalten werden. Dies meint, dass nur Apotheker/Pharmazeuten eine Apotheke führen dürfen. Der Apotheker soll aber weiter zu einem Heilberuf entwickelt werden.
Zur Psychotherapie schreibt der KV nur, dass niedrigschwellige Onlineberatungen und eine Notversorgung der Psychotherapie eingeführt werden sollen.
Die Digitalisierung mit Pflichteinführung einer elektronischen Patientenakkte (ePA) wird damit begründet, dass eine Doppeldokumentation und Doppelerhebung von Befunden vermieden werden soll. Dabei sollen alle IT-Anbieter im Gesundheitssektor einen verlustfreien Datenaustausch über eine Schnittstelle bis 2027 gewährleisten.
Unter dem Stichwort Bürokratieabbau sieht der KV eine Etablierung einer Vertrauenskultur vor, damit die Dokumentationspflichten und Kontrollen, inklusive der Prüfquoten in den Krankenhäusern, reduziert werden können. Ferner sollen alle Gesetze mittels eines Praxis Checks überprüft werden. Man darf gespannt sein, was bei der Digitalisierungspflicht aller Gesundheitsdaten an Vertrauen wächst, und welche Dokumentationen und Kontrollen entfallen werden.
Zur Gesundheitsforschung soll ein Registergesetz zur Datennutzung für Forschungszentren des Gesundheitssystems erlassen werden. Dies soll die Versorgungsforschung mit primären und sekundären Gesundheitsdaten der Krankenkassen (GKV), wie der Leistungserbringer regeln. Ferner soll die CART-Zelltherapie (Gentechnologie) weiter gefördert werden und ein deutsches Kompetenz- und Behandlungszentrum für Krankheiten durch hochpathogene Erreger (STAKOB) gegründet werden.
Unter der Überschrift ‚Auswirkungen der Corona-Pandemie‘ soll eine verbesserte Versorgung von Betroffenen mit Post-Covid/Post-Vac-Syndrom erfolgen. Ferner wird es eine umfassende Aufarbeitung mittels einer Enquete-Kommission geben, um insbesondere Lehren für zukünftige Pandemiegeschehen abzuleiten. Hier ist zu hoffen, dass die Zusammensetzung der Enquete-Kommission nicht nach politischen Interessen erfolgt, sondern dass sich diesmal das breite Spektrum der Wissenschaft und Gesellschaft darin widerspiegelt.
Deutschland möchte sich zukünftig für eine globale Gesundheit mehr einbringen und Schlüsselpositionen in der WHO ergreifen.
Zum Schluss des Kapitels 4.2 Gesundheit und Pflege im KV findet sich im letzten Satz auf Zeile 3607 der Satz: Wir unterstützen Forschung und Versorgung zu Naturheilkunde und Integrativer Medizin zur Prävention. Dies darf als Meilenstein der politischen Arbeit der letzten Jahre durch unsere Organisationen angesehen werden, mussten wir doch noch im letzten Jahr mit einer Bundestagspetition gegen die Abschaffung der Satzungsleistung der Homöopathie und anthroposophischen Arzneimittel unter dem Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach kämpfen. Es gilt hier für die neue Legislaturperiode diesen Satz auszufüllen und die Prävention im Sinne einer Salutogenese so zu erweitern, dass sich die Anthroposophische Medizin als Teil der Integrativen Medizin auch in der Regelversorgung zunehmend manifestiert.
Als Fazit kann festgestellt werden: Der behauptete strukturelle Reformkurs im Gesundheitssystem wird nicht erreicht, da er die grundlegenden Hemmnisse der starken sektoriellen Leistungserbringung nicht angeht. Die Patientenzentrierung bleibt hinter den Wettbewerbsinteressen der Industrie und Leistungserbringer zurück. Positiv zu bewerten ist die Benennung einer neuen Vertrauenskultur (vielleicht nur ein Lippenbekenntnis…) und die Nennung der Integrativen Medizin. Auch eine gewisse Aufwertung der Pflegeberufe scheint ernst gemeint zu sein, wenngleich auch bereits die letzte Bundesregierung hier vieles gut gemeint hat, ohne es umzusetzen (z.B. das Stimmrecht der Pflege im Gemeinsamen Bundesausschuss). Es ist zu hoffen, dass diesmal viele Absichtserklärungen auch ihre Ausgestaltung finden und der Bürokratieabbau nicht nur weitere Papiere und Vorschriften füllt.