Herausforderungen und Perspektiven für eine moderne Geburtshilfe
Berlin, 13. März 2025. Ein neues Leben auf die Welt begleiten zu dürfen, ist in den meisten Fällen für alle Beteiligten ein glücklicher und freudiger Anlass. Gleichzeitig ist die Geburtshilfe heute stark geprägt von Ängsten und Sorgen: Während Eltern sich sorgen, dass etwas beim Ungeborenen übersehen wird, sorgen sich Ärzt:innen, Hebammen und Geburtshelfer über möglicher Fehler und Konsequenzen. Wie kann ein Raum geschaffen werden, in dem wieder die Eltern und Kinder im Mittelpunkt stehen und die Versorgung erhalten, die sie wirklich brauchen?
Diese Frage stand im Mittelpunkt der Lunchsession „Geburtshilfe als Balanceakt zwischen Hightechmedizin und natürlicher Geburt“ im Januar 2025. Dr. med. Gabriela Stammer (Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe) moderierte den einstündigen Austausch zwischen Prof. Dr. Michael Abou-Dakn (Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, St. Joseph Krankenhaus Berlin Tempelhof), Dr. med. Jan Vagedes (Chefarzt der Pädiatrie an der Filderklinik, Stuttgart) und Julia Grebner (Anthroposophische Hebamme in der Schweiz), die die aktuellen Herausforderungen in der Geburtshilfe diskutierten und gemeinsam nach Lösungen suchten.
Geduld als Schlüssel zum natürlichen Geburtsverlauf
Zentrales Thema der Diskussion war die Bedeutung von Geduld in der Geburtshilfe. Professor Michael Abou-Dakn betonte in seinem Vortrag, dass ein Teil der Kaiserschnitte mit mehr Geduld vermeidbar wäre. Er erklärte, warum es eine Neubewertung der Zeitrahmen der verschiedenen Geburtsphasen unter Berücksichtigung der Latenzphasen (Ruhephasen) geben muss: „Wenn wir Frauen zu früh in die Klinik aufnehmen, dann steigt die Intervention“, sagte er deutlich. Daher warb er dafür, dass Hebammen und Frauenärzt:innen gemeinsam die Frauen und ihre Bedürfnisse wahrnehmen, um sie auch in dieser ersten Phase der Geburt gut und interventionsarm zu begleiten.
Individuelle Förderung von Frühchen
Im Vortrag von Dr. Jan Vagedes rückten die Frühgeborenen in den Fokus. Der Neonatologe unterstrich die Notwendigkeit einer individuellen Betreuung von Früh- und Neugeborenen, insbesondere für das Erkennen und Reagieren auf ihre einzigartigen Entwicklungsmerkmale. Er erörterte eine Studie der Harvard Medical School in Boston, die zeigt, dass eine personalisierte Betreuung von Frühchen zu besseren Gesundheitsergebnissen führen kann, einschließlich einer früheren Entlassung aus Krankenhäusern. Es sei daher wichtig, die Perspektive weg von einem effizienten, krankenhaus- und erwachsenenfreundlichen Umgang mit Säuglingen hin zu einem Angebot und einem System zu lenken, das es ermöglicht, das Wohlbefinden und die individuellen Bedürfnisse von Säuglingen in den Vordergrund zu stellen. Dr. Vagedes machte in diesem Zusammenhang auf eine Studie1 aufmerksam, die zeigen konnte, dass das Spielen einer pentatonisch gestimmten Harfe tief in das autonome Nervensystem der Frühchen wirkt, die Herzratenvariabilität sehr positiv beeinflusst und die Durchblutung bis in die Fingerspitzen hinein signifikant verändert.
Vertrauen als Basis
Für Hebamme Julia Grebner bedeutet Geburt vor allem Vertrauen. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten als Geburtshelferin und auch Vertrauen in die Fähigkeiten der Gebärenden. Als Hebamme verstehe sie es als ihre Aufgabe, sich Zeit zu nehmen und die Frauen in ihren Fähigkeiten zu bestärken: weg von den Schwangerschafts- und Wehen-Apps hin zu dem Gespür für den eigenen Körper und die eigenen Fähigkeiten. Wenn dies gelinge und die Frauen mit weniger Sorgen und Ängsten in den Kreißsaal kämen, hätte dies einen positiven Effekt auf den Geburtsverlauf. Julia Grebner betonte außerdem die Wichtigkeit des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Professionen, die in eine Geburt eingebunden sind: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn wir in diesem geburtshilflichen Team gemeinsam auf die Mutter und das Kind schauen, dass dann die beruflichen Rangeleien in den Hintergrund treten und dass dann die interdisziplinäre Zusammenarbeit eine Bereicherung ist.“
Zukunftsperspektiven für die Geburtshilfe
Es braucht also einen Wandel in der Geburtshilfe, der die Ressourcen zur Geduld ermöglicht und das Vertrauen in die natürliche Geburt wieder in den Mittelpunkt stellt und werdende Eltern darin bestärkt, auf ihre Intuition und ihren Körper zu vertrauen. Ein offenes und respektvolles Miteinander zwischen den Berufsgruppen ist notwendig, um die bestmögliche Betreuung zu gewährleisten. Die Finanzierung der Geburtshilfe und die Ausstattung mit Personal muss danach ausgerichtet werden. Es muss in der Geburtshilfe wieder viel mehr um Vertrauen, Geduld und Beziehung gehen - sei es unter der Geburt, im Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen oder in der gezielten Förderung von Frühchen.
1 Studie: Ranger, A.; Helmert, E.; Bott, T. S.; Ostermann, T.; Als, H.; Bassler, D.; Hautzinger, M.; Vagedes, J.: Physiological and emotional effects of pentatonic live music played for preterm neonates and their mothers in the Newborn Intensive Care Unit: A randomized controlled trial (2018): https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30477847/
S3-Leitlinie “Die Vaginale Geburt am Termin”: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/015-083
Hintergrund
Die Veranstaltung fand im Rahmen der Reihe „Anthroposophische Medizin im Dialog“ statt. Die Aufzeichnung ist online verfügbar:
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Vor einigen Jahren hat die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD) gemeinsam mit anderen Ärzteverbänden, Hebammen und Eltern die Initiative „Wir – von Anfang gemeinsam“ ins Leben gerufen. 2019 entstand aus dem Zusammenschluss ein interdisziplinärer Kongress, um über neue Perspektiven und innovative Formen der Zusammenarbeit zu sprechen. Daraus ist ein Positionspapier entstanden, welches » Sie hier finden.
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Kontakt
DAMiD - Dachverband Anthroposophische Medizin in Deutschland
Lina Reimers
Julia Grebner – Vorständin im DAMiD