Über 40 Jahre habe ich mich hauptberuflich in unterschiedlichen Bereichen des anthroposophischen Sozialwesens engagiert. Begonnen hat alles mit dem Zivildienst und der Ausbildung als Heilerziehungspfleger in einer sozialökologisch orientierten Lebensgemeinschaft mit Angeboten zur Teilhabe für erwachsene Menschen mit Behinderung. Es folgte der Aufbau einer multifunktionalen Werkstatt für Jugendliche zur Berufsvorbereitung und Berufsorientierung. Nach meinem Studium war ich als Lehrer und Geschäftsführer an einer heilpädagogischen Schule tätig. Auch baute ich eine heilpädagogische Gemeinschaft mit Angeboten für Kinder und Jugendliche mit sehr unterschiedlichem Unterstützungsbedarf, bis hin zu wachkomatösen und beatmungspflichtigen Kindern und Jugendlichen, auf.

Seit über 20 Jahre unterstütze ich nun diese Arbeitsfelder als Geschäftsführer von Anthropoi Bundesverband, dem anthroposophischen Fachverband für Menschen mit Behinderung, mit aktuell 173 Mitgliedsorganisationen, die mit über 260 Einrichtungen und Diensten mehr als 17.000 Menschen mit Behinderung in ihrem Leben, Lernen und Arbeiten unterstützen und begleiten.

In meinen unterschiedlichen Tätigkeiten habe ich die anthroposophische Medizin als wichtige Partnerin und Unterstützerin schätzen gelernt, besonders:

  • die fundierte und vielseitige ärztliche Beratung,
  • die um therapeutisch wirksame Anwendungen erweiterte Pflege,
  • und die unterschiedlichen physiologischen und künstlerischen Therapieangebote.

Neben der Waldorfpädagogik und den anthroposophischen sozialwissenschaftlichen Ansätzen ist sie eine der drei historischen Quellen des anthroposophischen Sozialwesens.

Entscheiden ist für mich dabei, dass die anthroposophische Medizin die physiologisch-organische Seite des Menschen, die auch unserer Außenwahrnehmung und naturwissenschaftlicher Forschung zugänglichen ist, systematisch und auf einem hohen fachlichen und ethischen Niveau, mit der Innenperspektive, dem individuellen Erleben und der Vielfalt des menschlichen Bewusstseins, verbindet.

Die Qualität dieser Medizin ist von der guten wissenschaftlichen Ausbildung, aber in gleichem Maße auch von einer bewussten und gezielten Schulung des Wahrnehmungs- und Einfühlungsvermögens, von sozialen und persönlichen Kompetenzen der Akteur:innen abhängig. Dafür bietet Anthroposophie ein breites Spektrum von Anregungen und Übungswegen. Eine lebendige Anthroposophie als Grundlage der anthroposophischen Medizin ist darauf angewiesen, dass Menschen sie individuell, eigeninitiativ und selbstbestimmt ergreifen.

Bereits 1915 machte Rudolf Steiner in einem Schriftwechsel darauf aufmerksam, wie entscheidend die Begegnungsqualität für die Begleitung und Unterstützung von Menschen mit Behinderung sei. Dabei gehe es vor allem darum, sich authentisch und selbstverständlich in die Lebenswelt und das Erleben eines Menschen mit Behinderung einzufühlen, seine Perspektive einzunehmen, sich, so zu sagen, achtsam in seine Schuhe zu stellen. Von Menschen mit einer Behinderung werde, so Steiner, sehr sensibel wahrgenommen, ob die geschilderte Begegnungsqualität authentisch sei.

Von Herzen danke ich den anthroposophischen Pflegenden, Therapeut:innen und Ärzt:innen! Sie haben sich eine hohe medizinische Fachkompetenz angeeignet. Genauso wichtig ist für mich aber, dass sie sich in das Erleben und das Wesen von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen einfinden und einfühlen. Das hat ihre Wahrnehmungs- und Intuitionsfähigkeit geschult. So können sie das individuelle Verhalten und die Reaktionen von Menschen auch mit hohem Unterstützungsbedarf verstehen – auch wenn diese sich oft nicht oder nur sehr eingeschränkt verbal äußern können – und daraus hilfreiche Angebote entwickeln!

Manfred Trautwein, Geschäftsführer » Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen e.V.