portrait dörte hilgard diabetes

Persönliche Begleitung für ein kindgerechtes und gesundes Aufwachsen

Wer Diabetes hört, denkt häufig zunächst an die Großeltern, die ihren Blutzuckerspiegel messen und sich Insulin spritzen (lassen) müssen. Aber es gibt auch viele Kinder und Jugendliche, die von Diabetes mellitus betroffen sind.
Diabetes mellitus ist eine Gruppe von Stoffwechselkrankheiten, bei denen der Blutzucker stark ansteigt. Unterschieden werden dabei Diabetes-Typ I und Diabetes-Typ II. Beim Typ I handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse zerstört. Insulin braucht der Körper aber, um den mit der Nahrung aufgenommenen Zucker zu verarbeiten. Schafft er das nicht, kann das lebensbedrohliche Folgen haben.
In Deutschland sind aktuell etwa 32.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren an Diabetes Typ-I erkrankt. Die Tendenz ist steigend. Diabetes-Typ-II, auch „Altersdiabetes“ genannt, nimmt bei Kindern und Jugendlichen ebenfalls zu. Die Ursachen liegen vor allem an einer ungesunden Ernährung und Bewegungsmangel. Eine familiäre Vorbelastung ist bei beiden Diabetes-Formen eine mögliche Ursache.
Wird bei einem Kind Diabetes diagnostiziert, ist das für viele Eltern meist sehr beängstigend. Die Diagnose bedeutet einige Veränderungen, die die ganze Familie betreffen: Umstellung des Lebensstils, regelmäßige Messungen, Arztbesuche und Insulingaben.
Dr. med. Dörte Hilgard ist Kinder- und Jugendärztin und Kinder-Endokrinologin/-Diabetologin mit » eigener Praxis in Witten. Sie setzt neben der Gabe von Insulin vor allem auf eine individuelle Beratung und Begleitung ihrer jungen Patientinnen und Patienten. Im Interview beantwortet sie Fragen rund um die Behandlung von Diabetes und gibt Tipps für Eltern.

Liebe Frau Dr. Hilgard, ist Diabetes ein Thema in der Kinderärztlichen Praxis?

Dörte Hilgard: Ich schätze, dass Diabetes in einer durchschnittlichen Kinderarztpraxis kein so großes Thema ist. Vielleicht sind hier fünf Kinder, die Diabetes vom Typ I haben. Ich habe eine Spezialsprechstunde für Kinder mit Diabetes und damit werden bei uns im Schnitt 250 Kinder betreut.


Woran lässt sich Diabetes erkennen?

Dörte Hilgard: Ein neu auftretender Diabetes zeigt sich durch Gewichtsverlust, nachlassende sportliche Leistungsfähigkeit, verschlechterte schulische Leistungen sowie vermehrtem Durst und häufigerem Toilettengang.

Wir wird Diabetes behandelt?

Dörte Hilgard: In jedem Fall braucht das Kind eine regelmäßige Zufuhr von Insulin. Dies erfolgt entweder mit einer intensivierten Insulintherapie, bei der mit einem Insulinpen oder einer Spritze das Insulin mehrfach täglich unter die Haut gespritzt wird, oder mit einer Insulinpumpentherapie. Mit einem Sensor kann der Glukosewert im Blut gemessen werden. Wenn der Sensor mit der Pumpe vernetzt ist, kann bei zu hohem BZ-Wert dem Körper über eine kleine Pumpe Insulin zugeführt werden. Das nennt sich AID-Therapie. Das heißt aber nicht, dass die Pumpe alles selber kann. An viele Dinge müssen Betroffene – oder bei sehr jungen Kindern meist die Eltern – aber weiter selber denken. Welche Therapieform die Familien anwenden, entscheiden das Diabetesteam gemeinsam mit der Familie. Das Essen muß stets vorher ausgerechtet und mit einer bestimmten Insulinmenge versorgt werden. Für diese und alle Standardtherapien braucht es sorgfältige Schulungen für Eltern und Kinder.

Wie kann die Anthroposophische Medizin hier ergänzend eingesetzt werden?

Dörte Hilgard: Aus der Anthroposophischen Sicht ist die Pädagogik entscheidend. Die Krankheit sollte ganzheitlich betrachtet werden. Ich finde es sehr wichtig, dass die Familien gut begleitet und geführt werden, damit die Kinder ein möglichst normales Leben führen können. So können Kinder auch alles essen - es muss aber eben in Menge und Zusammensetzung gut berechnet werden. Ich halte zusätzliche medikamentöse Interventionen gering und lege mehr Wert auf individuelle Begleitung auf dem Weg zur angemessenen Verselbständigung der Kinder. So kann zum Beispiel künstlerische Beschäftigung sinnvoll sein, oder körperliche Tätigkeit. Wir gehen beispielsweise manchmal mit den Kindern klettern.

Haben Sie Tipps für betroffene Familien, wie sie den Alltag mit ihren Kindern meistern können? Oder gibt es gute Beratungsstellen?

Dörte Hilgard: Es gibt eine Arbeitsgruppe in der Kinderdiabetologie namens » AG Inklusion, die deutschlandweit eine gute Anlaufstelle ist. Hier geht es vor allem um die Frage, wie Kinder und Jugendliche mit Diabetes im Kindergarten und in der Schule begleitet werden können. In Nordrhein-Westfalen gibt es ein spezielles » Landesprojekt, in dem Kinderiabetologisches Fachpersonal in schulische und KiTa-Einrichtungen gehen, um sicherzustellen, dass die Kinder keine Nachteile haben. Hier gibt es auch den Verein » Pro Kid e.V., den ich als Koordinierungsstelle dazu ebenfalls empfehlen kann. In anderen Bundesländern gibt es ebenfalls Beratungsstellen. Es ist wichtig, dass Familien und Kinder lernen, angemessen mit der Erkrankung umzugehen und Unterstützung im Umfeld zu finden.

Immer mehr Menschen erkranken an Diabetes. Was muss getan werden?

Dörte Hilgard: Wie bei allen Autoimmunerkrankungen nimmt auch Diabetes zu. Es bedarf jedoch mehr Einrichtungen, die sich darum kümmern können. Dies wird zunehmend schwieriger, da viele Kliniken dies aufgrund von Personalmangel oder wirtschaftlichen Gründen nicht mehr gut leisten können oder wollen. Es ist so, dass die Technik Fortschritte macht, aber die persönliche Interaktion und das Gespräch mit den Familien bleiben entscheidend. Der Trend, sich zu stark auf die Technik zu verlassen, muss vermieden werden. Die Herausforderung besteht darin, die Kinder mit ihrer Krankheit altersgerecht in die Selbstständigkeit zu begleiten. Hierbei kann die Anthroposophische Medizin eine bedeutende Rolle spielen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 11. Januar 2024