Herr Dr. Meinecke, Sie sind Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und haben gleichzeitig eine psychotherapeutische Zusatzausbildung. In Ihrer Praxis haben Sie zunehmend mit Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen zu tun. Was ist da los?
Dr. Christoph Meinecke: Ja, ich behandele heute definitiv mehr Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsstörungen als früher. Das ist ein Abbild unserer Zeit. Wir alle sind heute ja viel mehr Reizen ausgesetzt, insbesondere über alle möglichen Medien. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn viele Kinder reizbar, nervös, unruhig sind. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Bereitschaft, den Kindern echte Entwicklungsräume zu geben, in unserer Gesellschaft oft nicht vorhanden ist. Dabei ist es ja eindeutig ein langwieriger Prozess, sich selbst regulieren zu lernen.
Wie erleben Sie den Umgang mit den Aufmerksamkeitsstörungen?
Dr. Christoph Meinecke: Ambivalent. Auf der einen Seite wird schnell pathologisiert, d.h. Kinder bekommen eine medizinische Diagnose und gelten damit als „krank“ mit allem, was dazu gehört: Arztbesuche, Termine, Medikamente. Auf der anderen sind für Kinder, die eindeutig Hilfe brauchen, oft nicht die Ressourcen da, um ihnen geduldig beizustehen. Es fehlt an Strukturen, die sicherstellen, dass diejenigen Hilfe bekommen, die sie am dringendsten brauchen.
Was haben Aufmerksamkeitsstörungen mit der Schule zu tun?
Dr. Christoph Meinecke: Sehr viel. ADHS spielt vor allem im Schulalter eine Rolle. Die Klassen sind groß, Kinder müssen sich stark – auch sozial – anpassen. Gleichzeitig haben viele Eltern das Gefühl, dass ein guter Schulabschluss existenziell wichtig dafür ist, ein erfülltes Leben zu führen. Diesem Ziel wird vieles untergeordnet, oft auch kindgerechte Entwicklungsfreiräume.
Warum tun wir uns oft schwer mit kindlichen Aufmerksamkeitsstörungen?
Dr. Christoph Meinecke: Es reicht eben nicht, die Diagnose zu stellen und dann darauf zu setzen, dass die Medikamente gut anschlagen. Bei ADHS braucht es viel mehr, nämlich ganzheitlich ansetzende Therapien, Elterntrainings, Zusammenarbeit mit Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen, Erzieher:innen etc. Das Problem: Ideen für solche Konzepte gibt es, sie werden allerdings aus finanziellen Gründen oft nicht umgesetzt. Wir lassen diese Familien und ihre Kinder viel zu oft allein!
Warum ändert sich das nicht?
Dr. Christoph Meinecke: Weil wir es hier mit echten strukturellen Problemen zu tun haben: Die Betreuungsschlüssel in der Kita sind nicht gut, die Bezahlung von qualifizierten Erzieher:innen ist mies, für Hebammen ist kein Geld da, für Sozialarbeiter:innen in der Schule ebenso wenig – und so weiter. Das ist ein Armutszeugnis für ein so reiches Land wie Deutschland. Kinder, die in Problemkiezen aufwachsen, haben in der Regel keine Chance, rauszukommen, ihre Sinne zu schulen oder sich in der Natur frei bewegen zu können. Von einer sinnvollen Begleitung der Familien, um Erziehungskompetenz auszubilden, mal ganz abgesehen. Gerade diese Kinder sind am gefährdetsten.
Wie erleben Sie das in Ihrer Praxis?
Dr. Christoph Meinecke: Wenn ich versuche, für einen schweren Fall einen Platz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu bekommen oder überhaupt nur einen Therapieplatz, finde ich kaum einen. Wir müssen die Kinder dann wieder nach Hause schicken, weil nichts frei ist. Und das bei Kindern, die nichts dringender brauchen, als dass liebevoll jemand auf sie eingeht, sie stärkt und stützt.
Segen oder Fluch – wie stehen Sie zur medikamentösen Therapie?
Eine optimale pädagogische Begleitung ersetzt (in den allermeisten Fällen) Ritalin & Co!
Dr. Christoph Meinecke: Um es kurz zu machen: Eine optimale pädagogische Begleitung ersetzt (in den allermeisten Fällen) Ritalin & Co. Es gibt nur wenige Kinder, deren Problematik so stark ist, dass man ihnen Psychopharmaka geben muss. In der Realität müssen wir uns aber auch eingestehen, dass das Umfeld eben oft nicht optimal pädagogisch funktioniert. Deshalb können einige Kinder von den Medikamenten profitieren, wenn wirklich Schaden droht und wenn anderen Therapiemaßnahmen nicht zur Verfügung stehen. Ich persönlich finde, dass die medikamentöse Therapie eine Kapitulation vor den Kindern und ihren sehr individuellen Bedürfnissen ist.
Was können Sie als Kinderarzt tun, wenn die Strukturen so schlecht sind?
Dr. Christoph Meinecke: Wir müssen als Ärzt:innen selbst aktiv werden. In meiner Praxis haben wir uns deshalb schon vor einigen Jahren neue Konzepte entwickelt und haben zum Beispiel das „Familienforum Havelhöhe“ aufgebaut, in dem wir begleitend Elterntrainings, Beratung, Kurse anbieten. Das wird sehr gut angenommen.
Wie behandeln Sie betroffene Kinder?
Dr. Christoph Meinecke: Unser Ansatz ist und bleibt, möglichst auf Medikamente zu verzichten. Wir versuchen es zunächst mit Familienhilfe, auch über das Familienforum Havelhöhe. Die Familien werden im Alltag unterstützt, so dass man den Kindern wieder Vertrauen zurückgeben kann: Auch für dich ist gesorgt. Und man kann diese Kinder sehr gut pädagogisch begleiten. Dafür gibt es unsere Elternkurse. Manchmal ist auch eine Therapie der ganzen Familie nötig. Außerdem stärken wir die Selbstwahrnehmung der Kinder.
Was brauchen die Kinder am dringendsten?
Dr. Christoph Meinecke: Die Kinder mit ADHS brauchen das Gefühl, in ihren Grundbedürfnissen (wieder) versorgt und beschützt zu werden. Vor allem in der Schulzeit mit ihren ganz eigenen Herausforderungen müssen wir die Kinder so stärken, dass sie ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln und behalten dürfen. Das ist unser wichtigstes Ziel.
Wie setzt die Anthroposophische Medizin an?
Dr. Christoph Meinecke: In der Anthroposophischen Kinderheilkunde liegt ein sehr wichtiger Schwerpunkt darauf, dass Kinder eine gesunde Ich-Entwicklung erleben können. Daher ist es uns sehr wichtig, dass wir den Kindern Entwicklungsräume zugestehen. In der Prävention heißt das: Das Kind dabei zu unterstützen, erst einmal bei sich anzukommen und die eigenen Sinne auszubilden – tasten, sich bewegen, sehen, hören etc.
Wie erleben Sie persönlich Kinder mit ADHS?
Dr. Christoph Meinecke: Kinder mit ADHS haben ihre ganz besonderen Qualitäten: Auch wenn man es natürlich nicht verallgemeinern kann, sind sie oft sehr spontan, sie sind kreativ, sie können schnell verzeihen und sind sehr an ihren Mitmenschen interessiert. Aber sie können ihre Kraft und ihr Temperament eben nicht zügeln, so dass sie dann als distanzlos, hektisch, sozial übergriffig wahrgenommen werden. Gleichzeitig reagieren sie sehr schnell auf Unstimmigkeiten in der Erwachsenenwelt. Wenn ihnen aber jemand gegenübersteht, der authentisch ist, der sich ehrlich interessiert und auch dranbleibt – das merken diese Kinder sehr schnell und sind dann auch bereit, sich zu öffnen. Das zu erleben, macht mir große Freude.
Herr Dr. Meinecke, vielen Dank für dieses Gespräch!
über Dr. Christoph Meinecke
Dr. Christoph Meinecke ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut. Er ist ausgebildeter Arzt für Anthroposophische Medizin, Verhaltenstherapie und Bindungs-Psychotherapie. Dr. Christoph Meinecke ist Ärztlicher Leiter, Referent und Mitglied des Vorstandes am Familienforum Havelhöhe. Das Familienforum schafft Angebote für Eltern und Kindern, um die Herausforderungen einer Familie gemeinsam zu meistern: www.familienforum-havelhoehe.de